JAHRESBERICHT 2023

«AM ANFANG WAR ICH SO: ICH GEGEN DIE WELT. UND JETZT IST ES EHER SO: ICH UND EIN TEIL DER WELT GEGEN DEN REST.» LIONEL, BEWOHNER SOMOSA

Vier Mitarbeitende erzählen hier über ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit Lionel, einem unserer Bewohner, der eigentlich anders heisst: Lea Kempter, Sozialpädagogin Wohngruppe, Kevin Stutz, Sozialpädagoge Tagesstruktur, Iljana Käufeler, Psychologin Therapie, und zum Schluss Tatjana Ruf, Sozialpädagogin Wohntraining.

Sozialpädagogik

Lea Kempter

Sozialpädagogin, Wohngruppe:
«HIER BLEIBE ICH SICHER NICHT UND WAS WOLLT IHR JETZT DAGEGEN MACHEN?!»

In den ersten Wochen seines Aufenthalts verliess er fast täglich das Areal, ohne sich abzumelden und ohne jemanden wissen zu lassen, wohin er ging und ob er wiederkommen würde. Aber er kam wieder. Jedes Mal. Irgendwann sagte er mir mal mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht: «Lea, ich hab dir immer gesagt, ich kann das, wenn ich will.» Er verliess die Wohngruppe nach einem Jahr und zog ins Wohntraining der Modellstation SOMOSA – mit einer Lehrstelle in der Tasche und einem Plan für die Zukunft abseits der Strasse.

Nie vergesse ich den Tag, an dem Lionel bei uns auf der Wohngruppe eintrat. Er kam in Begleitung von zwei Polizeibeamten und trug Handschellen, da er sich buchstäblich mit Händen und Füssen dagegen gewehrt hatte, in die Modellstation SOMOSA zu kommen.

Einen ungünstigeren Start hätte ich mir für meine Arbeit mit Lionel nicht vorstellen können. Die Wut auf seine Eltern, die KESB und die Erwachsenen im Allgemeinen, die über seinen Kopf hinweg entschieden hatten, dass er Hilfe brauche und in die Modellstation SOMOSA ziehen sollte, diese Wut war allgegenwärtig und er liess sie uns deutlich spüren. Diese Abwehrhaltung sollte noch eine ganze Weile anhalten und machte es enorm schwierig, mit Lionel in Kontakt zu kommen, geschweige denn mit ihm in die Arbeit einzusteigen.

Wann immer ich versuchte mit ihm ins Gespräch zu kommen entzog er sich oder verwies mich aus seinem Zimmer. Die einzigen Sätze, die er an mich richtete, waren «Hier bleibe ich sicher nicht und was wollt ihr jetzt dagegen machen?!» und «Ich gehöre nicht hierher! Ich bin nicht verrückt!».

Lionel machte seine Drohung mehr als einmal wahr. In den ersten Wochen seines Aufenthalts verliess er fast täglich das Areal, ohne sich abzumelden und ohne jemanden wissen zu lassen, wohin er ging und ob er wiederkommen würde. Aber er kam wieder. Jedes Mal. Meist erst in den frühen Morgenstunden. Oft unter Einfluss von Cannabis. Aber er kam zurück.

Da Lionel nicht dazu bereit war, mit mir zu sprechen, schrieb ich Zettel und schob diese unter seiner Tür durch. Immer wieder ging ich bei ihm vorbei und versuchte, einen Fuss in die Türe zu bekommen, immer wieder schickte er mich weg.

Lionel hatte grosse Mühe, morgens aus dem Bett zu kommen, da er meist bis in die frühen Morgenstunden wach war. So gestaltete sich auch der Einstieg in die Tagesstruktur enorm schwierig. Er lehnte auch die Strukturen auf der Wohngruppe ab, erledigte seine Ämtlis nicht und verweigerte die Teilnahme an den Gruppengefässen. Kurz gesagt, er wollte gar nichts mit uns zu tun haben.

Da Lionel regelmässig kiffte, gelegentlich auch innerhalb der Modellstation SOMOSA, und daraus auch kein Geheimnis machte, erhielt er immer wieder Ausgangssperren. Lionel steckte in einem Teufelskreis fest. Er lehnte sich gegen die Regeln auf, um uns zu zeigen, dass er sich nichts sagen lässt und gut allein klarkommt. Dieses Verhalten führte zu immer weiteren Konsequenzen, die er tragen musste. Dagegen musste er natürlich auch wieder verstossen, da er sonst das Gefühl hatte, sein Gesicht zu verlieren.

Wir versuchten, mit Lionel Deals auszuhandeln, ihm entgegenzukommen, einen Weg zu finden, wie er aus diesem Teufelskreis aussteigen konnte, ohne das Gefühl zu haben, klein beizugeben. Langsam schien Lionel sich einzugestehen, dass es Vorteile für ihn haben könnte, sich wenigstens ein Stück weit auf uns einzulassen.

Als Lionel schon einige Zeit bei uns war, begleitete ich ihn zu einer Anhörung bei der Jugendanwaltschaft. Gegen ihn lief noch ein Verfahren wegen verschiedener Delikte, welche er vor dem Eintritt bei uns begangen hatte. Zu dem Termin kamen auch seine Eltern, zu denen er nach wie vor keinen Kontakt hatte und wollte. Ich hatte das Gefühl, das war das erste Mal, dass Lionel dankbar war, dass jemand da war, um ihn zu unterstützen. Als die Richterin ihm seinen Platz zuwies, sah er mich erschrocken an und meinte: «Kannst du nicht neben mir sitzen?»

Langsam war das Eis gebrochen und Lionel liess sich mehr und mehr auf Gespräche mit mir ein. Er nahm auch wieder Kontakt zu seinen Eltern auf. Im Sommer verbrachte er dann ein paar freie Tage bei ihnen. Hier schien sich ein Schalter umgelegt zu haben. Lionel äusserte das erste Mal den Wunsch, das Kiffen aufzugeben, und bat um Unterstützung. Auch gab er seinen Plan auf, Karriere auf der Strasse zu machen, oder er legte ihn wenigstens vorrübergehend auf Eis.

Er stieg quasi über Nacht voll in der Tagesstruktur ein, kam pünktlich und liess sich auch auf externe Schnuppereinsätze ein. Es schien, als sei ein riesiger Knoten geplatzt. Ab diesem Zeitpunkt stellte sich Lionel allen Herausforderungen und meisterte sie alle mit Bravour. Er schaffte es, das Kiffen sein zu lassen, konnte aus mehreren Lehrstellen auswählen, verbrachte jedes Wochenende bei seinen Eltern und hielt sich an (fast) alle Regeln der Wohngruppe.

Irgendwann sagte er mir mal mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht: «Lea, ich hab dir immer gesagt, ich kann das, wenn ich will.» Ich habe erwidert: «Ich habe nie daran gezweifelt, dass du das kannst. Nur daran, ob du es auch mal wollen wirst.» Jetzt wollte Lionel. Und konnte auch. Er verliess die Wohngruppe nach einem Jahr und zog ins Wohntraining der Modellstation SOMOSA – mit einer Lehrstelle in der Tasche und einem Plan für die Zukunft abseits der Strasse.

Sozialpädagogik

Kevin Stutz

Sozialpädagoge, Tagesstruktur:
«MIR IST ALLES SCHEISSEGAL»

Als der Sommer näher rückte und Lionel noch keine Ausbildungsstelle gefunden hatte, verlor er fast vollständig die Motivation. Wir versuchten, ihn zu unterstützen, aber er zog sich zunehmend zurück. Wir machten uns immer grössere Sorgen, wie wir weiter vorgehen sollen und welche Möglichkeiten in Frage kommen. Doch dann kam im Herbst plötzlich die Wende.

Lionel wirkte nicht wie der typische «SOMOSA-Jugendliche». Seine Kleidung war ordentlich, er machte einen selbstbewussten Eindruck und legte viel Wert auf sein Aussehen und Auftreten. In unserem ersten Gespräch zeigte er sich motiviert für die Berufsfindung und erzählte mir, in welchen Berufen er schon geschnuppert hat. Ich hörte von den anderen Bereichen wie der Wohngruppe, dass sich der Alltag sowie die Beziehungsgestaltung mit ihm schwierig gestaltete. Als er dann in die Medienwerkstatt wechselte, zeigte er uns gegenüber aber ein ganz anderes Gesicht. Er verhielt sich freundlich und man konnte sich mit ihm stundenlang über viele verschiedene Themen unterhalten.

Am Anfang diskutierten wir oft über seine Konflikte auf der Wohngruppe, wobei Lionel eine gute Reflexionsfähigkeit zeigte. Doch wenn es um Arbeit ging, konnte er sich nur schwer motivieren. Auch die Berufswahl bereitete ihm Probleme, da er keine konkreten Schritte unternahm.

Als der Sommer näher rückte und Lionel noch keine Ausbildung gefunden hatte, verlor er fast vollständig die Motivation. Wir versuchten, ihn zu unterstützen, aber er zog sich zunehmend zurück. Wir besuchten ihn täglich im Zimmer und versuchten, ihn für die Arbeit zu motivieren. Während er es am Anfang noch genoss, dass wir ihn im Zimmer besuchten, reagierte er im Sommer zunehmend abweisend, stellte sich oft schlafend oder schickte uns gleich wieder weg. Wir machten uns immer grössere Sorgen, wie wir weiter vorgehen sollen und welche Möglichkeiten in Frage kommen. Doch dann kam im Herbst plötzlich die Wende. Lionel erschien wieder regelmässiger zur Arbeit, wirkte fröhlicher und zeigte sich motiviert, sich intensiver mit der Berufswahl zu beschäftigen.

Er absolvierte verschiedene Schnuppereinsätze als Interactive Media Designer, im kaufmännischen Bereich und im Detailhandel, wobei er positive Rückmeldungen erhielt, was seine Motivation und sein Selbstbewusstsein weiter stärkte. Am Ende konnte er sich zwischen zwei Ausbildungsplätzen auswählen und entschied sich für die Ausbildung zum Kaufmann EFZ. Dort startete er anfangs 2024 erfolgreich in die Berufsvorbereitung.

Lionel hat während seiner Zeit in der Modellstation SOMOSA eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. Während er am Anfang noch alles ablehnte und eine «mir ist alles scheissegal»-Einstellung hatte, schaffte er sich im Verlauf des Aufenthaltes eine berufliche Perspektive und er hat sich menschlich deutlich weiterentwickelt.

Für mich als Bezugsperson war es von Anfang an leicht, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, da wir gleich einen guten Draht zueinander hatten. Wir konnten gemeinsam stundenlang über viele verschiedene Themen diskutieren und alltägliche Schwierigkeiten reflektieren. Er zeigte sich sehr dankbar, wenn man sich Zeit für ihn nahm, und konnte auch Kritik gut annehmen.

Psychologie

Iljana Käufeler

Psychologin, Therapie:
EIN SCHRITT RICHTUNG FREIHEIT UND VERANTWORTUNG

Nie im Leben werde ich dir vertrauen. Das System ist gegen mich, du gehörst zum System, ich scheisse auf das System.» Diese Haltung vermittelte Lionel in den ersten Begegnungen mit aller Überzeugung und mit jeder Faser seines Körpers.

Obwohl er offensichtlich überhaupt keinen Bock auf Therapie hatte, setzte er sich manchmal auf einen meiner Stühle (immer einen anderen versteht sich). Mir kam eine grosse Portion Misstrauen entgegen, aber auch ein paar Sätze, die davon zeugten, dass Lionel sich wie in einem Gefängnis fühlt und er sich sein altes Leben zurücksehnt.

An manchen Tagen blieb Lionel im dunkeln Zimmer liegen und schickte mich sogleich weg, wenn ich mich nach ihm erkundigen wollte. Er lehnte alles, was mit seinen Eltern zu tun hatte, komplett ab. Deshalb entschied ich mich, zu Beginn ganz bewusst nur mit Lionel zu sprechen und auch selbst keinen Kontakt mit den Eltern zu haben. Ich konnte mich darauf verlassen, dass die Bezugsperson vom Wohnen mit den Eltern im Kontakt bleibt.

Nach und nach schien Lionel etwas Vertrauen zu fassen. Ich konnte nach mehreren Monaten zum ersten Mal seine Eltern einladen, er kam sogar zu Gesprächen mit dazu und nach und nach knüpfte Lionel wieder an die Beziehungen an und verbrachte die Wochenenden in seinem Zuhause.

Mit der gewonnenen Beziehungsstabilität befasste Lionel sich auch zunehmend mit schwierigeren Themen und setzte sich aktiv und authentisch mit seiner Lebensführung auseinander. Es folgten darauf auch wieder Phasen, in welchen er sich zurückzog und niemanden an sich heranlassen wollte. Die Extreme waren weniger extrem und mehr und mehr realisierte Lionel, dass es auch für ihn eine Perspektive gibt. Er machte Schritte in die Selbstständigkeit, benötigte manchmal Unterstützung, nahm sie manchmal an, lehnte sie manchmal ab – ein offenes Ringen darum gelang immer mehr.

Nach vielen Monaten harter Arbeit gelang es Lionel, einen grossen Schritt Richtung mehr Freiheit und Verantwortung zu tätigen und vom stationären Setting der Modellstation SOMOSA in eine begleitete Wohnform überzutreten und mit einer Berufsvorbereitung zu starten. Vor Kurzem stellte Lionel belustigt fest, dass er nun ja selbst fast ein bisschen «zum System» gehöre.

Sozialpädagogik

Tatjana Ruf

Sozialpädagogin, Wohntraining:
«ICH FREUE MICH AUF DEN MOMENT, WO ... UND ICH MIR MEIN EIGENES FRÜHSTÜCK ZUBEREITE.»

Lionel geniesst den vergrösserten Freiheitsaspekt im Wohntraining sehr, als 18-Jähriger kann er seine abendlichen Rückkehrzeiten selbst gestalten. Da er viel Freude an seinem Vorpraktikum hat, hat sich hier schon bald ein Rhythmus eingestellt.

Lionel kam im Verlauf des Aufenthaltes in der Modellstation SOMOSA immer wieder auf mich zu und bekundete sein Interesse am Wohntraining. Von Anfang an war klar, dass das Wohntraining nur eine Übergangslösung darstellen wird, bis ein Platz gefunden ist, wo auch eine morgendliche Betreuung stattfinden kann, dies, um allfällige Irritationen während der Ausbildung zu vermeiden. Die Bemühungen hierfür sollten mit Hilfe des Wohntraining-Teams stattfinden. In der Zwischenzeit hat Lionel Zeit, während seines Vorpraktikums in seinem künftigen Lehrbetrieb seine Errungenschaften rund um die Selbstständigkeit und Autonomie unter Beweis stellen zu können.

Als Lionel am Vorabend seines Geburtstags gefragt wurde, ob er zu Hause übernachten würde, sein Geburtstag war in der zweiten Woche seines Aufenthaltes im Wohntraining, entgegnete er: «Nein, ich werde hier im Wohntraining schlafen. Ich freue mich auf den Moment, wenn ich als Volljähriger ausgeschlafen habe, allein in einer Wohnung aufwache, und mir mein eigenes Frühstück zubereite.»

Lionel geniesst den vergrösserten Freiheitsaspekt im Wohntraining sehr, als 18-Jähriger, kann er seine abendlichen Rückkehrzeiten selbst gestalten. Da er viel Freude an seinem Vorpraktikum hat, hat sich hier schon bald ein Rhythmus eingestellt. Die richtige Wahl in Bezug auf den Ausbildungsort bestätigt sich mit Lionels regelmässiger Teilnahme an seiner neuen Tagesstruktur.

Auch die Wochenenden verlaufen entspannt, kein «nerviger Sozi», der einem «irgendetwas vorschreiben» will. Mit den anderen drei Mitbewohnern müssen die Regeln des Zusammenlebens zwar immer wieder überprüft werden, was auch nicht ganz konfliktfrei abläuft, aber gesamthaft stiftet der Zuwachs an Selbstverantwortung auch mehr innere Sicherheit, und es ist ein schöner Erfolg, wenn einem das Zubereiten eines Abendessens für alle gelingt.

Mehr Freiheit bedeutet auch mehr Engagement. Lionel bemerkte schnell, dass es Organisationsvermögen und Geschick benötigt, um im erwünschten Zeitrahmen allem gerecht zu werden: Arbeit, Alltagspflichten, Administration, Familie – und Freundschaftspflege. Die von Lionel in den letzten Monaten gewonnene Entschlossenheit wird nicht nur einmal geprüft, aber das innere Fundament für ein Leben in Unabhängigkeit ist errichtet, und Lionel widmet sich der Umsetzung seiner Lebensvision in einem ihm gemässen Tempo.

Vor dem Ausbildungsbeginn wird Lionel noch einmal einen Institutionswechsel vornehmen. Dort wird er mit anderen jungen, erwachsenen Menschen zusammenleben. Was in der anfänglichen Krisenzeit schwer umsetzbar schien, entfaltet sich nun in erfreulichster Weise. Wir freuen uns mit Lionel!